Der im Jahr 1895 fertiggestellte Kaiser-Wilhelm-Kanal
war
einer der wenigen Wasserstraßen, auf der es nicht nur eine Lotsenpflicht gab, sondern auch speziell
für diese Wasserstraße ausgebildete Steuermänner. In den ersten
Jahren seines Bestehens hatte auf dem Kaiser-Wilhelm-Kanal trotz
der Lotsenpflicht fast jedes 20. Schiff eine Havarie, so daß sich
die Kanalverwaltung dazu gezwungen sah, ein Kanalsteurerdienst
nach holländischem Vorbild einzurichten.
Dies geschah auf die Initiative des Präsidenten des Kanalamtes Carl
Loewe, der dies 1899 in einem Brief an das Innenministerium
vorschlug, […] aus der alten Erfahrung heraus, daß selbst
ein geübter Seemann sein eigenes Schiff in seinem Verhalten
nicht mehr wiedererkennt, wenn es eine enge Wasserstraße
passieren muß.
Abb.: Segelschleppverband vor den Neuen Schleusen zwischen 1914 und 1935. Da auch damals im Kanal nicht gesegelt werden darf und die Segler damals in der Regel keine eigenen Motoren hatten, wurden für sie Schleppverbände gebildet. Hinten links die Dankeskirche, rechts daneben der Pegelturm.
Ein großer Teil der Havarien ereignete sich dabei auf der Wind und Wetter ausgesetzten Westhälfte des Kanals. Welche Kräfte alleine schon der Wind auf größere Schiffe ausüben kann, kann man auch heute noch daran erkennen, daß diese oft mit Schlepperhilfe in die Schleusenkammern einlaufen müssen, da sie bei niedriger Geschwindigkeit kaum zu manövrieren sind.
Daß diese gegenseitige Beeinflussung von Schiff und Wasserstraße keineswegs trivial ist, zeigte sich als in den späten 1950er Jahren schließlich am Rader Durchstich bei Rendsburg Messungen über die gegenseitige Beeinflussung von Schiff und Kanal durchgeführt wurden, die bestätigten, daß die Steuerfähigkeit der Schiffe bei einem Tiefgang von 8 Metern am schlechtesten war und sich bei abnehmenden Tiefgang verbesserte. Plötzliche — insbesondere einseitige — Änderungen des Kanalquerschnitts haben einen ungünstigen Einfluß auf das Steuerverhalten der großen Schiffe.
Einem großen Schiff eilt bei der Kanalfahrt eine Stauwelle voraus, die je nach Schiffsform mehrere Meter hoch und mehrere 100 Meter ausgedehnt sein kann. Demgegenüber kommt es in der Schiffsmitte zu einer Absenkung (Sog) des Wasserspiegels. Dieses hat nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Uferbefestigungen. Dasselbe gilt für Rückströmungen neben und unter dem Schiff.
Der Laie denkt, der Kanal sei ein stilles Wasser. Tatsächlich aber führen besonders dicke Pötte zu unkalkulierbaren Druckverhältnissen im Kanal, und höllisch kann der Wind zulangen. »Ungeübte wissen dann gar nicht, wie ihnen geschieht«, sagt Augspach. Bei Seitenwind muss der Steuermann mit der Schiffsnase immerfort in Richtung Ufer steuern, was bei Gegenverkehr zum Problem wird. »Kurz abfallen, vorbeifahren und gleich wieder an den Wind ran«, erklärt Augspach das Manöver. Den Kahn an einen Dalben lehnen, einen Pfahl zum Festmachen, ohne diesen platt zu fahren (15000 Euro), ein driftendes Schiff abzufangen und schließlich gegen Seitenwind abzulegen – auch das ist hohe Kanalsteuerschule.
Ein großes Problem für die Schiffe stellen nicht nur die Enge des Fahrwassers, sondern auch die Strömungen im Kanal dar, die als Folge des Ablassens überschüssigen Wassers durch die Brunsbütteler Schleusen entstanden. Da der Kanal samt seinem Einzugsgebiet ca. 15% der abfließenden Regenmenge in Schleswig-Holstein in die beiden Meere abführt, mußten die Schleusen immer wieder geöffnet werden, um zu hohe Wasserstände und damit auch zu geringe Durchfahrtshöhen unter den Hochbrücken zu verhindern.
Bereits wenige Monate später wurde das Ersuchen Carl Loewes
hinsichtlich eines Kanalsteureramtes positiv beschieden und die
Kanalverwaltung schrieb im darauf
folgenden Februar 37 Reedereien mit der Bitte an, die Ausbildung
der künftigen Kanalsteurer auf deren Schiffen zu ermöglichen.
Schon im April 1900 standen dann 12 ausgebildete Kanalsteurer
bereit.
Abb.: Plan der 1930 in Holtenau erbauten Dienstgebäude der Kanalsteurer.
Die Ausbildung der ersten Kanalsteurer dauerte zwischen 2 und 4
Wochen und endete mit der Erprobung ihrer Befähigung und
Tüchtigkeit
und der Zulassung durch den
Betriebsdirektor der Kanalverwaltung. Der Anteil der Havarien
bezogen auf die Zahl der Durchfahrten sank von 6% (1895–1900) auf
unter 1% (1905–1910) um dann wieder auf unter 2% anzusteigen.
In den Anfangsjahren des Kaiser-Wilhelm-Kanals arbeiteten die Kanalsteurer in Gruppen von zwei Mann. Jede Gruppe hatte ein Ruderboot zur Bedienung der Leinen zum Festmachen der Schiffe in den Kanalweichen bzw. an der Kanalböschung dabei. Der erste Mann besetzte das Ruder während der zweite Mann in das Boot ging und mit dem Ladebaum von den Schiffen an Bord genommen wurde. Der Liegeplatz der Ruderboote befand sich am westlichen Ende der Alten Schleusen auf der Nordseite. Erst mit der Kanalerweiterung 1907-14 wurden die Ruderboote abgeschafft.
Der Aufenthaltsraum der Kanalsteurer befand sich am Ostende auf der Nordseite der Alten Schleusen. Dort stand auch eine große Kiste mit Broten von Bäcker Stender, welche durch die Schleusendecksleute an die passierenden Schiffe abgegeben wurden, da es in diesen Anfangsjahren noch keine Schiffshändler gab.
In Folge eines tödlichen Unfalls des Steurers H. J. Glüsing im
Jahre 1907 kam es seitens des Reichsversicherungsamtes zu der
Feststellung, daß die Kanalsteurer nicht als Teil der
Schiffsbesatzung zählten und demnach als Arbeitnehmer des
Kanalamtes galten. Das Kanalamt regte daraufhin die Gründung eines
eingetragenen Vereins der Kanalsteurer an, um sich der
Verantwortung als Arbeitgeber entziehen zu können. So gründete
sich unter der Versammlungsleitung von Fritz Boldt am 24.
September 1908 der Verein der Kanalsteurer e.V.
.
Wie die Lotsen wählen auch die
Kanalsteurer ihre Kollegen selbst. Nachdem sich die Einrichtung
bewährt hatte, legte die Kanalverwaltung die gesamte interne
Dienstregelung und Verwaltung in die Hände des Vereins.
Noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sah die Arbeit der Kanalsteurer folgendermaßen aus:
Es gingen — wie bereits oben beschrieben — jeweils 2 Kanalsteurer
an Bord des Schiffes. Ihr wichtigstes Instrument dabei war die so
genannte Steurerlampe
, die in der Dunkelheit als
Richtungspunkt beim Steuern diente. Sie wurde in der
Ankerlampenjolle am Vorstag geführt, wobei die mit einem roten
Fenster versehene Lampe zum Kanalsteurer zeigte und in gleicher
Höhe zu den Kanallampen ausgerichtet war. Es war nun die Aufgabe
des Kanalsteurers, das Schiff so zu führen, daß der Abstand
zwischen der roten Lampe am Mast und den weißen Kanallampen immer
gleich groß war. Bei Nebel oder anderem stark die Sicht
behindernden Wetter wurde in der Regel nicht gefahren oder
höchstens nach Kompaß bis zur nächsten Kanalweiche
gesteuert. Die Kanalsteurer fuhren die ganze Kanalstrecke von
Holtenau nach Brunsbüttel ab und lösten sich alle 25 Kilometer ab.
Möglich wurde dieses Verfahren erst dadurch, daß der gesamte Kanal
von Holtenau bis nach Brunsbüttel auf beiden Seiten durch Lampen
beleuchtet wurde, deren Strom in den Kraftwerken in Holtenau und
Brunsbüttel erzeugt wurde.
Für die Dauer ihres Einsatzes sind die Kanalsteurer Teil der
Besatzung und haben an Bord Anspruch auf freie Verpflegung
zu den für die Schiffsmannschaft festgelegten Mahlzeiten sowie
auf unentgeltliche, reinliche Unterkunft und Schlafstätte
,
so wie es in der Verfügung des Kaiserlichen Kanalamtes aus dem
Jahr 1916 festgelegt ist.
Hin- und Rückreise an Bord eines Schiffes dauern zusammen ungefähr 20 Stunden, nach ungefähr 20 Stunden erfolgt der nächste Einsatz. und nach 23 Tagen Reihendienst folgen 7 freie Tage. Auf 4 Reihendienste folgen 27 freie Tage.
Heutzutage sind die Kanalsteurer freie Gewerbetreibende unter der Aufsicht des Wasser- und Schifffahrtsamtes und erhalten Gebühren nach Tarif. Konnte in den Anfangszeiten der Kanalsteurer noch jeder Schiffsführer selbst darüber entscheiden, ob er einen Kanalsteurer bei der Passage in Anspruch nehmen wollte, so wurde später mit zunehmenden Kanalverkehr bei Schiffen ab 2.500 BRT ein Kanalsteurer vorgeschrieben. Voraussetzung für den Beruf des Kanalsteurers sind 6 Jahre auf Kleiner Fahrt und eine zwölfmonatige Ausbildung, die mit einer praktischen und theoretischen Prüfung abgeschlossen wird.
Für die Kanalsteurer auf dem Nord-Ostsee-Kanal gibt es weltweit
nur wenige Entsprechungen wie am Verbindungsweg
Antwerpen-Rotterdam und am Manchesterkanal
. Auf
den Holtenauer Schleusen haben die Holtenauer Kanalsteurer ein
eigenes Haus. Alle 4 Jahre wählt der Verein seinen Vorstand neu,
der Vorstandsvorsitzende vertritt den Verein nach außen hin. Zu
feierlichen Anlässen wird ihre weiß-grün-weiße Flagge, auf der
sich die Buchstaben V.d.K.St.
und ein Steuerrad
befinden, am Flaggenmast der Zentrale aufgehißt.
Die Organisationsstruktur der Kanalsteurer stellt, wie es
gerade in der heutigen Zeit einen durchaus funktionierenden Anachronismus dar:
Die Kanalsteurer sind ein komischer Verein. Ein e.V. seit 1908. Allesamt Arbeitnehmer ohne Chef. Die einzige Autorität ist die Satzung. So konnten sie sich üppige Freizeitregelungen spendieren (sechs Tage im Monat am Stück frei) und wählen neue Kollegen demokratisch. Der Nachteil: »Wir können niemand rausschmeißen.« Nicht mal mit gerichtlicher Hilfe. Und weil in der Satzung keine Altersgrenze vorkommt, können auch noch 72-jährige Zausel im Dienst sein. Sympathisch: Die Vereinseinnahmen werden brüderlich geteilt.
© Bert Morio 2019 — Zuletzt geändert: 09-02-2019